Dienstag 1. Oktober 2002 (CNT-AIT, Combat Syndicaliste #73)
Seit letzten Winter greifen die BewohnerInnen Argentiniens den Staat an und machen seine KomplizInnen von links und ganz links lächerlich. Sie verändern den Kapitalismus und schaffen Generalversammlungen in einem solchen Umfang, wie es sie seit 1936 (in Spanien) nicht mehr gegeben hat. Und das alles ohne, dass ein Anführer sich blicken lässt. Sie haben sich entschlossen freiheitlich gegen Staat und kapitalistischen Terrorismus zu kämpfen. In [dem Regierungssitz] Buenos Aires haben sich die EinwohnerInnen in Nachbarschafts-Vollversammlungen selbst organisiert und versuchen ihr Leben zu kontrollieren.
Was auch immer das Ergebnis sein wird, diese Bewegung hat bereits die alten ideologischen Formen durchbrochen, indem sie zwei ihrer Vorteile verwirklichte: direkte Demokratie und Verweigerung staatlicher Institutionen (welche nun auch für den internationalistischen Klassenkampf gelten werden). [1]
Diese neue Situation der internationalen Revolution sollte AnarchistInnen erfreuen. Aber in Frankreich [und Deutschland] ist die anarchistische Bewegung, wie überall, zu sehr in Praktiken gefangen, die ihre Anfälligkeit gegenüber der Ideologie des Mainstream aufzeigt: die Teilnahme am Antiglobalisierungs-Spektakel, der Reformismus am Arbeitsplatz im Namen einer „wirkungsvollen Gewerkschaftsarbeit », pathetische Allianzen mit National-Regionalisten hier und mit Linken dort… Es wird Zeit, wenn wir wirklich am Aufbau einer anderen, einer freien und gerechten Gesellschaft mit eigenen Vorschlägen teilnehmen wollen, dass wir zurück zu unseren Ursprüngen gehen – einer Praxis, die mit ihren Ideen übereinstimmt, einer horizontalen Praxis, die selbstbestimmt und nicht spektakulär ist. Die Ereignisse in Argentinien erteilen AnarchistInnen auf der ganzen Welt eine Lektion darin.
Überraschende Standpunkte einiger linker Libertärer (AnarchistInnen)
Am 20. Dezember 2001 kämpfte die Bevölkerung gegen den Staat und es verbündeten sich die Ärmsten mit der Mittelklasse. Diese Allianz ist hauptsächlich das Ergebnis einer verfehlten politischen Planung.
Am Anfang wollte die Mittelklasse bloss ihre Ersparnisse zurück und kümmerte sich nicht um die Not anderer. Gleichzeitig mussten die Ärmsten verhungern und es gab wochenlang Plünderungen. Die Regierung bereitete einen neuen Schlag vor, um die Interessen des internationalen Kapitalismus zu bewahren. Sie war bereit sich selbst als die Verteidigerin der Ordnung gegen die „Anarchie » darzustellen. Die Regierung dachte, dass die Mittelklasse schon auf dem rechten Weg bleiben und diesen Tausch annehmen würde – zwar ruiniert zu sein, aber ohne Unsicherheiten. Der Eckpfeiler dieser Strategie, die Ausrufung des nationalen Notstandes, hatte jedoch eine entgegengesetzte Wirkung – die Vereinigung aller Unzufriedenen wurde dadurch erst besiegelt. Der Grund dazu ist einfach: In Argentinien verstehen eine unglaubliche Anzahl Leute, wie das System funktioniert und beschlossen es zu beenden und mit ihm alles, was das System repräsentiert. Daher gab es direkt nach dem 20 Dezember 2001 diese Verweigerung gegenüber allen politischen Parteien und [hierarchische] Gewerkschaften. Diese Zurückweisung brachte erstaunliche Stellungnahmen aus Teilen der anarchistischen Bewegung hervor. Die [libertär-sozialistische O rganisation] OSL aus Argentinien erklärte dazu: „Aber sicherlich war die komplette Ablehnung politischer Parteien eine der charakteristischen Eigenschaften der Demonstration (vom 20.Dez. 2001). Diese von den Medien geförderte Einstellung spielte der Desorganisation und Spaltung in die Hände, was die Rechten begünstigte. »
Diese Stellungnahme wurde von OSL Schweiz und von anderen Medien der AnarchistInnen, wie „Alternative Libertaire » [2] in Frankreich und „Tierra y Libertad » [3] in Spanien kommentarlos weiterverbreitet. Dies ist eine entsetzliche Verteidigung des Parlamentarismus. Sie unterstützt die konterrevolutionäre Idee, dass Massenbewegungen ohne einen politischen Apparat und ohne [hierarchische] Gewerkschaften nicht existieren könnten!
Was war am 20. Dezember 2001 passiert? Die Massen waren auf den Strassen, der Staat wurde überwältigt, Parteien und [hierarchische] Gewerkschaften abgelehnt. Die Polizei tötete einunddreissig Personen und überall gab es jede Menge Verwirrung. Sollten wir vor einem solchen Durcheinander Angst haben? Alle revolutionären Bewegungen sind gezwungen sich angesichts der Widersprüche jener Menschen zu organisieren, die die Revolution vorantreiben. Es ist die Rolle der einzelnen anarchistischen AktivistInnen hart daran zu arbeiten und alle Möglichkeiten einzusetzen, um die unterdrückten Klassen gegenüber Staat und Kapitalismus klar herauszustellen und unter einem freiheitlich-kommunistischem Blickwinkel zu vereinigen.
Wie sollten die Parteien und [hierarchische] Gewerkschaften eine Rolle in dieser revolutionären Aufgabe spielen? Was soll es bringen die Probleme in Begriffen von „links » und „rechts » aufzuteilen, wenn sie klar durch „Revolution » und „Konterrevolution » beschrieben werden können. Im Gegenteil, wir danken den Einwohnern Argentiniens dafür, dass sie diesen ersten notwendigen, diesen wahrlich revolutionären Schritt, getan haben.
Klärungen
In Argentinien gibt es einige „militante AnarchistInnen », die die Denkweise derjenigen linken Gruppen teilen, die bereit sind jeden Versuch massenhafter Selbstorganisation zu untergraben.
Im Gegensatz dazu nehmen die Anarchistische Föderation Argentiniens, die F.O.R.A. [4] und andere Militante die positiven Aspekte dieses Kampfes wahr. Bereits im Januar 2000 beschrieb die „Organizacion Obrera » [5] in einem Papier die Hauptaspekte des Kampfes. [Hierarchische] Gewerkschaften und linke, sowie linksextreme, Politiker wurden darin klar als Feinde der ArbeiterInnen blossgestellt. Dass die Bevölkerung sie zurückweist sei ein ermutigendes Zeichen. „Organizacion Obrera » besteht darüber hinaus auf der Sebstbestimmung anarchistischer Konzepte und Methoden. Es wird daran erinnert, dass wenn der Staat und die Institutionen eine Situation, wie die in Argentinien, als „Anarchie » bezeichnen, es sich eben nicht um Anarchie handele! Was passiere, sei lediglich ein Schritt zum Verfall der Macht. In Wirklichkeit aber sei das Chaos von Staat und Kapitalismus verursacht worden und nicht durch anarchistische Ideale.
Die AnachosyndikalistInnen in Argentinien wissen, dass diese Periode wichtig ist, aber dass die Leute noch eine Menge zu tun haben, um eine Gesellschaft auf sozialer und freiheitlicher Grundlage zu organisieren. Daher werden sie fortfahren ihr Vorhaben zu verwirklichen.
„Wir AktivistInnen der F.O.R.A. sind eine Organisation von ArbeiterInnen, die als gesellschaftliches Ziel den anarchistischen Kommunismus haben. Und das heisst nicht, dass wir den ganzen Tag lang Fensterscheiben einschlagen. Das sagen aber die LügnerInnen um ihr wirtschaftliches Wohlergehen und ihre politische Macht zu beschützen. Im Gegensatz dazu bedeutet Anarchismus eine neue Gesellschaft, die horizontal strukturiert ist, ohne dass die einen gegenüber anderen bevorteilt werden. Und wo alle in freien Versammlungen die wirtschaftliche und alltägliche Richtung bestimmen können. Eine solche Gesellschaft ist nur möglich, wenn die gesellschaftliche und wirtschaftliche Gleichheit aller Personen in dieser Gesellschaft als Rahmenbedingung erfüllt ist… »
In der gleichen Veröffentlichung machte ein Artikel Vorschläge für die Schaffung allgemeiner Ortsversammlungen und eines Treffens von Nachbarschafts-Delegierten, die beauftragt und abrufbar sind, um gemeinsam mit örtlichen, regionalen und internationalen Beauftragten (alle jederzeit abrufbar) die Kontrolle über die Produktion und den Konsum durch diese Versammlungen zu ermöglichen.
Lehren für die Zukunft
Diese Vorschläge stimmen nicht nur mit unseren Ideen überein, sondern sie spiegeln die Wirklichkeit wider. Hier der Beweis. Zur gleichen Zeit als die Mittel der F.O.R.A. nur eine vertrauliche Weiterverbreitung solcher Ideen ermöglichten, entdeckten bzw. erfanden die BewohnerInnen Argentiniens eine praktische Vorgehensweise, die mit den Vorschlägen der F.O.R.A. vergleichbar ist. Bald darauf, am 20. Februar 2002, erschien in [der französischen Zeitung] „Le Monde » eine Meldung, dass „in Buenos Aires die Bewohner Nachbarschaftsversammlungen organisieren. (…) ’Alle müssen gehen!’ Dieser Slogan betrifft Politiker, Richter, Banker und Gewerkschafter. (…) Jeden Sonntag treffen sich die verschiedenen Nachbarschaftsdelegationen zu Generalversammlungen, in denen Sprecher über die Arbeit in den jeweiligen Nachbarschaften informieren und Vorschläge für neue Kämpfe vortragen… Alle Entscheidungen werden durch das Heben der Hände abgestimmt, kein Redner darf im Namen einer Partei sprechen und es gibt eine systematische Ablösung der Delegierten. »
Andere Berichte beschreiben die Schwierigkeiten von PolitikerInnen und Gewerkschaftsfunktionären, die gezwungen sind, sich zu verkleiden, um überhaupt auf die Strasse gehen zu können. Sicher, wir können uns all die Angst vorstellen, die so etwas bei den Möchtegern-Führern auslöst!
Die BewohnerInnen Argentiniens führen einen unglaublichen Kampf. Aber wir sollten unseren Optimismus dämpfen – aus vielen Gründen. Der wichtigste ist, dass jene, die üblicherweise stark genug sind sich als HelferInnen der Unterdrückten darzustellen, obwohl sie nur deren Zuhälter sind, bereits versuchen in die Strukturen an der Basis einzudringen, sie zu unterwandern und zu bestechen. Dies tun sie, indem sie die vielfältigen Widersprüche und Schwierigkeiten hervorheben, mit denen die Menschen alltäglich zurechtkommen müssen. Denn die Praxis der direkten Demokratie ist nicht einfach. Besonders nicht, wenn die nötigen gesellschaftlichen Bedingungen, wie die gemeinsame Wiederaneignung der Produktionsmittel, noch nicht umgesetzt sind.
Die Verbrecher in Bürgertum, Politik und [hierarchische] Gewerkschaften machen eine schwere Zeit durch. Sie warten ab. Wenn die Kämpfe nachlassen, wenn jene, die arbeiten müssen um zu Überleben, müde werden oder wenn sie zurückgehen um ihr tägliches Essen zu erarbeiten, dann wird es den Verbrechern wieder möglich die Macht zu übernehmen und den Kapitalismus wiederanzukurbeln. Bis zu dem Tag an dem die ProletarierInnen der Welt, angeregt von den Ereignissen in Argentinien, die nötigen Massnahmen ergreifen werden, um die wirtschaftliche Sklaverei abzuschaffen.
Yvon
Dieser Artikel ist entnommen aus „Combat Syndicaliste #73 (Apri/Mai 2002), der Zeitschrift der Confederation National du Travail (CNT), Sektion der Internationalen ArbeiterInnen-Assoziation (IAA) in Frankreich.
Übersetzung aus dem Englischen: eduCAT – anarchistisches Bildungs- und Kultursyndikat c/o Buchladen Le Sabot, Breitestr. 76, 53111 Bonn, Germany
Kontakte:
F.O.R.A.: c/o Coronel Salvadores 1200, 1167 Buenos Aires, Argentina, fora5congreso@hotmail.com
IAA Sekreteriat, Boks 1977 Vika, 0121 Oslo, Norway, secretariado@iwa-ait.org, http://www.iwa-ait.org
En français – In french
En anglais – In english
[1] Diese Ereignisse erinnern an jene in Algerien im April 2001 nach der Ermordung eines jungen Mannes durch die Polizei. „Der besonders herausragende Aspekt des algerischen Aufstands ist die Selbstorganisation. Die Feindschaft gegenüber politischen Parteien und jeder ’Nähe zur Macht’, das Misstrauen gegenüber allen unkontrollierten Vertretungen, die Verweigerung wieder einmal das Fussvolk für politische Pläne zu sein; all das brachte die Verbreitung und Zusammenarbeit der Dorf- und Nachbarschaftsversammlungen hervor, die schnell von allen als der einzige gültige Ausdruck der Bewegung angesehen wurde. » (Jaime Semprun, « Plaidoyer pour l’insurrection algerienne » [„Plädoyer für den algerischen Aufstand »], in: Encyclopedie des nuisances)
[2] frnz. = „Libertäre Alternative »
[3] span. = „Land und Freiheit »
[4] „Federacion Obrera Regional Argentina » (span. = « Regionale ArbeiterInnen-Föderation » Argentinien), Mitglied der „Internationalen ArbeiterInnen-Assoziation (IAA) »
[5] span. = „Arbeiterorganisation »